„Erinnerungen sind Heimat!“ sagte einstmals Heinrich Böll. Da ist was dran, wenn man mal so in sich geht. In Seniorenheimen, oft die letzte irdisch Heimat von Menschen, ist wohl die Erinnerungsdichte besonders hoch. Logisch: betagte, lebenserfahrenen Menschen. Und doch ist immer wieder festzustellen, dass eben diesen Menschen ein Stück Heimat verlorengegangen ist, die Erinnerungen nicht ganz ausreichen oder dies manches Mal verschüttet sind.
Ich habe unglaublich viele gute Erinnerungen an meine Fotoserie und das Buch „Edgars Welt! Eine Liebeserklärung an die Armut, das Verrücktsein und dich!“. Dazu gibt es ein tolles Bühnenprogramm, die Lesung für ALLE FÜNF SINNE. Ja, eine Lesung, die man nicht nur sehen und hören, sondern auch schmecken, riechen und sogar fühlen kann. Mit diesem Programm gehen wir, meine Malu und ich, sehr gern in Seniorenheime, das mit einer Bühne voller Erinnerungsstücke, von der Tapete angefangen, über die Stehlampe, Sessel, bis hin zum alten Röhrenradio.
Genau; all das – und einen großen Sack voll Liebe – packten wir in unser Auto, fuhren damit an den Rand der Stadt, besuchten dort die Bewohner des TILIA-Hofes. Die älteste Bewohnerin ging straff auf den 101. Geburtstag zu. Nur mal so am Rande. Im Zentrum des Geschehens aber standen bzw. saßen wir.
Noch bevor es aber wirklich losgeht, sagt eine Frau, die neben ihrem Mann sitzt: „Wir sind 82 und 83, haben noch nie irgendwo in der ersten Reihe gesessen. Da hat sich doch das Altwerden gelohnt!“ So kann es heiter losgehen, so kann es heiter weitergehen.
Aufmerksam lauschten uns die Alten und die fleißigen Mitarbeiter des Hauses. Klar wurden dann in den ersten Reihen die Seifenblasen gefangen. Ein kindlich, fröhlicher Wettbewerb. Die ausgereichte Schokolade wurde genossen und die lieblich duftende Lilie wurde förmlich aufgesogen. Ja, ja; der Geruchssinn ist der, der am schnellsten die Erinnerungen weckt. Der absolute Höhepunkt bestand allerdings aus dem fühlbaren Teil der Lesung. „Was ist verrückt?“ wird da im Text gefragt. „Eine spontane Umarmung!“ lautet die Antwort, die wir ganz gleich in die Tat umsetzten. Wie viele Senioren hielten uns dann fest! Anstelle des fälligen Fragezeichens steht hier mit Absicht das Ausrufezeichen.
Ich umarmte eine alte Dame im zarten Blau; sie hatte sich extra für die Veranstaltung herausgeputzt, den feinsten Zwirn angelegt. Spürbar genoss sie diese Umarmung. Als ich sie losließ, zur Nachbarin wollte, hielt sie mich fest, schimpfte: „Drei Jahre haben die uns das verboten …“ woraufhin ich sie unterbrach: „Nicht schimpfen, lieber noch mal umarmen!“ Die Dame packte mich, wir umarmten uns. Der Ärger war verflogen; jedenfalls für den Moment.
Eine andere alte Dame, allerdings ganz in Rot, ließ mich gleich gar nicht wieder los, zitterte vor Freude, flüsterte: „Das tut so gut!“ Pause. „Das brauchen wir doch so sehr!“ Leichtes Schluchzen. „Liebe ist das Einzige. Ich habe nie gehasst.“ In solchen Momenten steht die Zeit still, das sind die Zeiten, an die man sich lange erinnern darf, die zur Heimat werden dürfen. An eben diesem Nachmittag im TILIA-Hof, wo man sehr zugewandt und liebevoll mit den Bewohnern umgeht, umarme ich diese Frau noch fünf Mal, mein rotes Hemd saugt Tränen auf, vielleicht auch Tränen der Freude. Und weil es so ist, darf ich jetzt Oma Ilse zu ihr sagen. Logisch; Oma Ilse darf mich Micha nennen. Verrückt, hieß doch meine Oma tatsächlich Ilse. Zufälle gibt es?!
Malu kann auch viele rührende Umarmungsgeschichten erzählen, zum Beispiel von dem Herren, der die tschechischen Komponisten so mag, der sich gern zweimal umarmen lässt, das mit den Worten: „Wenn man so alleine ist, tut das gut.“
Fast zum Schluss, zum guten Schluss kommt eine Dame auf mich zu, streckt mir ihre rechte Hand entgegen, die sie zur Faust geballt hat. Sie nimmt meine rechte Hand und lässt in die drei Zwanzig-Cent-Stücke und ein Zehn-Cent-Stück fallen. „Es ist für sie, für ihre Arbeit. Es ist alles, was ich habe. Nehmen sie es bitte und machen sie weiter.“ sagt sie und lässt sich nochmals von mir umarmen.
Liebe ist das Einzige. Erinnerungen an und in Liebe, das könnte eine herrliche Heimat sein. Wir haben es in der Hand – und bringen bald wieder Liebe und Erinnerungsstücke ins Altenheim.
(Wer meine Friedens-, Sozial- und Kunstprojekte gern unterstützen möchte, der sei herzlich dazu eingeladen, zu spenden (PayPal: micha.oertel@online.de) und mitzutun.DANKE!!!)